Laut Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation sterben jährlich rund 800000 Menschen weltweit durch Suizid. In Deutschland suizidieren sich jedes Jahr 9000 Menschen, das sind mehr Tote als durch Verkehrsunfälle, Gewalttaten und illegale Drogen. Die Zahl der versuchten Suizide wird auf mehr als 20-mal so hoch geschätzt. Jugendliche gehören dabei – gemeinsam mit alten Menschen – zu den größten Risikogruppen. Und durch die Pandemie ist die Not der Jugendlichen offenbar nochmals gestiegen: „Die Anfragen von Jugendhilfeeinrichtungen nach Schulungen zum Umgang mit Jugendlichen in akuten und suizidalen Krisen haben sich verdreifacht“, berichtet Sonja Liebig. „Viele Eltern schildern uns, dass ihre Kinder große Probleme haben, den gestellten Anforderungen in Schule und Beruf gerecht zu werden. Häufig findet sozialer Rückzug statt, dem die Eltern verunsichert gegenüberstehen.“ Dazu kämen hoher Medienkonsum und Suchtmittelgebrauch.
Schuldgefühle und Scham
Umso wichtiger sind Prävention, Aufklärung und die Enttabuisierung des Themas. Den Welttag der Suizid-Prävention im September haben Sonja Liebig und weitere Anlaufstellen zum Anlass genommen, um die ausgewiesene Expertin Christiane Engelhardt nach Würzburg zu holen. Für die Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie ist das Thema zu einer Lebensaufgabe geworden: Vor 26 Jahren musste sie den Suizid ihrer Tochter Hanna im Alter von 13 Jahren verkraften. „Als die Polizei mir mitteilte, dass Hanna sich auf die Bahngleise in der Nähe ihrer Schule gelegt hatte, hatte ich das Gefühl, dass es mein Herz zerreißt und mit einem Schlag die gesamte Energie aus meinem Körper schwindet“, erinnert sie sich an den Tag zurück, der das Leben der gesamten Familie zum Stillstand brachte. Das Schlimmste für sie selbst seien die Schuldgefühle gewesen und die tiefe Scham, als Mutter und Therapeutin versagt zu haben. Immer wieder habe sie sich gefragt, ob sie Hannas Tat hätte verhindern können.
Warnhinweise
Genau erinnert sie sich an ein hoffnungsvolles Frühlingsgedicht ihrer Tochter drei Wochen vor dem Suizid. Und an diese Frage „für eine Freundin“ nach der Verfügbarkeit von Schmerztabletten zwei Tage zuvor. Spontan habe sie nachgefragt: „Willst du Tabletten schlucken?“ Doch Hanna habe die Frage mit den Worten abgeschmettert: „Dich kann man nichts mehr fragen, du denkst immer nur das Schlimmste!“
Hinweise auf einen möglichen Suizid sollten Eltern unbedingt ernst nehmen, klärt Engelhardt auf. Dies gelte gerade für die besonders vulnerable Entwicklungsphase der Pubertät, die geprägt sei von einer hohen Verletzlichkeit, einem schwankenden Selbstwertgefühl, großen Sinnfragen, hoher Energie, einem veränderten Umgang mit Körperlichkeit und dem Wunsch, sich abzugrenzen und auszuprobieren.
„Fast alle Jugendlichen kündigen ihren Suizid vorher an“, berichtet die Therapeutin und Begleiterin; meist nicht den Eltern, sondern einem Mitschüler, einer Freundin oder Internetbekanntschaft. Auf direkte Ankündigungen („Ich lege mich vor den Zug. Ich bringe mich um.“) und indirekte Ankündigungen („Ich will nur noch meine Ruhe haben. Ich hau einfach ab.“) im Umfeld sollte man sofort reagieren. Auch bei Äußerungen wie „Ich kann nicht mehr durchatmen“ oder „Mir fehlt die Luft zum Leben“ sollten die Alarmglocken schrillen. Warnzeichen sind auch Abbrüche von Freundschaften, Leistungsabfall, das Weggeben lieb gewonnener Dinge wie Kuscheltiere, vermehrtes Schulschwänzen, anhaltende Hoffnungslosigkeit sowie psychosomatische Beschwerden wie Konzentrations- und Schlafstörungen, anhaltende Kopf- und Bauchschmerzen oder Appetitlosigkeit. Besonders heikle Risikofaktoren sind zudem sexuelle Übergriffe, die häufig verschwiegen werden, und Drogen. Für Eltern ist der Umgang mit den nach Freiheit strebenden Jugendlichen ein Drahtseilakt. Wie viel Kontrolle und wie viel Freiheit angebracht sind, müsse jede Familie selbst ausloten, so Engelhardt. Und auch wenn elterliche Einmischung unerwünscht ist, rät sie dazu, mit dem Nachwuchs in Kontakt zu bleiben.
Konkret bedeutet das:
• Suchen Sie immer wieder das Zweiergespräch in ungezwungenen Situationen.
• Hören Sie zu und nehmen Sie die Gedanken Ihres Kindes ernst.
• Treffen Sie Absprachen.
• Bringen Sie die eigene Sorge zum Ausdruck.
• Thematisieren Sie geäußerte Suizidgedanken und fragen Sie konkret nach.
• Vermeiden Sie belehrende Ratschläge von oben herab, sprechen Sie auf einer Ebene.
• Unterstützen Sie Ihr Kind beim Aufsuchen professioneller Hilfsangebote.
Auf die Wortwahl achten
Auch Menschen, die einen geliebten Menschen durch Suizid verloren haben, empfiehlt Engelhardt vor allem, Hilfe anzunehmen. Damit Angehörige sich nicht in Schuld und Selbstvorwürfen verfangen, verquere Erklärungsversuche konstruieren, sich komplett isolieren und einen Folgesuizid in Erwägung ziehen, sei das offene Gespräch unerlässlich. „Betonen Sie dabei, dass es entsetzlich ist, was passiert ist, der Tote sich jedoch für sich selbst und nicht gegen jemanden entschieden hat.“ Unbedingt vermeiden sollten Nahestehende das Wort „Selbstmord“, weil es den Suizid auf eine Ebene mit einem Verbrechen stellt. Den Entschluss des Verstorbenen zu respektieren und sich auf eigene Ressourcen und die eigene Resilienz zu besinnen, eröffne zugleich den Weg in das Leben nach und mit dem Suizid. Denn: Jeder Mensch, der auf diese Weise einen nahestehenden Menschen verloren hat, „darf die Hoffnung haben, dass der Suizid nicht das Ende ist, sondern der Beginn eines neuen Weges und einer neuen Lebensaufgabe“.
Anja Legge
Hilfe und Kontakt
Fachstelle Suizidberatung Würzburg
Kardinal-Döpfner-Platz 1, 97070 Würzburg; Telefon 0931/571717; E-Mail info@fachstelle-suizidberatung.de; Internet www.fachstelle-suizidberatung.de.
Telefon-Seelsorge Würzburg
Telefon 0800/1110111 oder 0800/1110222; E-Mail info@telefonseelsorge-wuerzburg.de; Internet www.telefonseelsorge-wuerzburg.de.
Gesprächsladen an der Augustinerkirche
Dominikanerplatz 4, 97070 Würzburg; Telefon 0931/55800; E-Mail info@gespraechsladen-wuerzburg.de; Internet www.gespraechsladen-wuerzburg.de.
Sozialpsychiatrischer Dienst des Erthal-Sozialwerks
Juliuspromenade 3, 97070 Würzburg; Telefon 0931/55445; E-Mail spdi.wuerzburg@erthal-sozialwerk.de; Internet www.erthal-sozialwerk.de/spdi/beratung-3.
AGUS – Angehörige um Suizid
Kreuz 40, 95445 Bayreuth; Telefon 0921/1500380; E-Mail kontakt@agus-selbsthilfe.de; Internet www.agus-selbsthilfe.de.