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      Viele Menschen mit Behinderung leben seit über einem Jahr in einem dauerhaften Lockdown

      Isolation statt Inklusion?

      Bis vor einem Jahr gehörte Inklusion zum Leben vieler Menschen mit Behinderung dazu. Mittlerweile ist vieles anders. „Corona hat die Dinge verändert“, sagt Kirsten Simon, deren zweiter Sohn Stefan mit einer schweren Mehrfachbehinderung zur Welt kam. Politik und Gesellschaft haben nach Beobachtung der 60-jährigen Aschaffenburgerin enorme Rückschritte gemacht. Denn: „Im Augenblick leben Menschen mit Behinderung und deren Familien eher in Isolation statt in der Mitte der Gesellschaft.“

      Kirsten Simon hat in ihrem Leben schon viel mitgemacht. Und sie hat ungeheuer viel gestemmt. Mit einem Lächeln erinnert sich die gelernte Industriekauffrau an den Tag zurück, als ihr zweiter Sohn im Oktober 1990 in der Münchner Uniklinik geboren wurde: „Es war ein wunderschöner Herbsttag und ich war der glücklichste Mensch auf der Welt. Stefan kam lebensfähig zur Welt, er wurde ärztlich versorgt, der Oberarzt strich ihm über die Wange und sagte tröstend zu mir, dass mein Junge doch ganz gut aussehe.“ Damals war ihr noch nicht bewusst, dass er auch mit vielen weiteren sichtbaren Missbildungen auf die Welt hätte kommen können. Missbildungen, die auf eine Infektion mit Toxoplasmen in der Schwangerschaft zurückzuführen sind. Obwohl es Alarmzeichen und Probleme gegeben hatte, bekam Kirsten Simon erst fünf Wochen vor der Geburt die Diagnose „schwere Behinderung bis mögliche Totgeburt“.

      Die Eltern nahmen die Herausforderung an, doch die Mehrfach-Behinderung bestimmte schnell den Alltag der Familie, zu der auch ein großer Bruder gehört. Kurz nach der Geburt stellte sich heraus, dass Stefan blind war, dann trat von einem Tag auf den anderen eine Epilepsie auf, die bis heute massiven Einfluss auf das Familienleben hat. „Wenn Stefan krampft, braucht es mittlerweile zwei Leute, um ihn zu beruhigen“, verdeutlicht Kirsten Simon. Und doch: Dank einer großen Portion Liebe und entgegen aller Prognosen entwickelte sich der kleine Junge mit dem Kämpferherz gut.

      Schon früh kam Kirsten Simon mit der Selbsthilfe in Kontakt. Gemeinsam mit anderen Eltern gründete sie die „Selbsthilfegruppe für Eltern anfallskranker Kinder und Jugendlicher im Raum Aschaffenburg“ und den „Freundeskreis der Comenius-Schule Aschaffenburg“.

      Enorme Entwicklung

      Seit 2005 engagiert sie sich bei der Lebenshilfe, ist heute erste Vorsitzende des Aschaffenburger Vereins und Mitglied im Landesvorstand Bayern. Schließlich gelangte sie auch zum Familienbund der Katholiken und zu „intakt.info“, wo sie seit vielen Jahren erst ehrenamtlich, dann auch hauptamtlich mitarbeitet. Unzählige Nächte habe sie am PC gesessen, Informationen vermittelt, Verzweifelte abgeholt und aufgefangen. Geholfen hat ihr dabei neben der eigenen Erfahrung der Erfahrungsaustausch mit anderen Betroffenen, die Kommunikation mit der Wissenschaft, das ehrenamtliche Engagement und die aktive politische Arbeit.

      „Man wächst an seinen Aufgaben“, sagt Kirsten Simon, die für ihr Engagement 2014 das Bundesverdienstkreuz erhalten hat. Auch durch ihr Zutun haben Behindertenhilfe und Inklusionsprozess in den letzten 30 Jahren eine enorme Entwicklung durchgemacht. Während sie in den 1990er Jahren noch angestarrt wurde und mangels Alternativen ihr Kind in eine Betreuungs-Einrichtung geben musste, sei Behinderung heute kein Makel mehr. „Die Menschen sind informiert, es gibt sehr viele flexible und auf den individuellen Bedarf abgestimmte Hilfen. Menschen mit Behinderung sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen.“

      Bis vor einem Jahr. „Corona hat uns um Jahre zurückgeworfen, wir fangen auf vielen Ebenen wieder ganz neu an“, klagt Kirsten Simon. Warum? „Viele Menschen mit Behinderung und deren Familien befinden sich seit März 2020 in einem dauerhaften Lockdown“, berichtet sie. Manche Wohnheimbewohner hatten seit einem Jahr keinen Besuch mehr. Andere Eltern versorgen ihre Kinder seit Monaten zu Hause – aus Angst vor einer Infektion. „Aus Inklusion ist vielfach Isolation geworden.“

      Stefan Simon hatte bereits seit 2015 in einer Einrichtung für Menschen mit komplexer Behinderung in Aschaffenburg gelebt. Nach langer Eingewöhnung war er Anfang 2020 gut in seiner neuen Heimat angekommen. „Doch als wir Stefan am 11. März 2020 nach einer Haut-Operation wieder zurückbringen wollten, war das Wohnheim von heute auf morgen geschlossen.“ Die Eltern hätten Stefan zwar ins Wohnheim geben können, allerdings ohne ihn besuchen oder tageweise nach Hause holen zu können. Für die Simons kam das nicht in Frage, sie nahmen ihren Sohn mit nach Hause – und das wurde trotz aller Fürsorge zum Desaster.

      „Im Mai nahm Stefan keine Medikamente mehr an und verweigerte das Essen. Ich hatte nur noch Angst. Dass er verhungern würde. Vor dem nächsten Anfall. Wie es weitergehen sollte.“ Als Stefan schließlich in einer Epilepsieklinik aufgenommen wurde, war das eine zentnerschwere Entlastung.

      Hin und Her belastet

      Zwar konnte Stefan im Juli wieder zurück ins Wohnheim, gut war aber noch lange nichts. „Das Hin und Her, die fehlende Struktur, der auf ein Minimum reduzierte Kontakt haben Stefan verändert“, sagt Kirsten Simon: „Er ist abgestumpfter geworden, hat körperliche Rückschritte gemacht, ihm fehlen Abwechslung, Bewegung, Ansprache durch Vertraute aus der Tagesförderstätte.“ Hinzu kam das Ringen um die Schutz-Impfung. Während man Menschen in stationärer Unterbringung relativ bald auf die Priorisierungsliste gesetzt hatte, wurden diejenigen, die teilstationär untergebracht sind oder zu Hause leben, anfangs vergessen. Viele Eltern fühlen sich verunsichert, überfordert, müssen kämpfen.

      Auch Kirsten Simon hatte zunächst Vorbehalte, doch mittlerweile ist ihr Sohn geimpft. „Weil ich ihm Normalität und Teilhabe ermöglichen will“, sagt sie. Da sich aber nicht alle Eltern so entscheiden, blickt Kirsten Simon voller Sorge in die Zukunft: „Wollen wir Menschen ohne Schutzimpfung wegsperren und Geimpfte und Nicht-Geimpfte separieren? Wenn wir das tun, fallen wir ganz weit zurück. Wir vergessen, welche psychischen und physischen Folgen mangelnde Teilhabe am Alltag hat, nehmen sogar Rückschritte in Kauf“, warnt sie.

      Eine Lösung für all diese Probleme hat Kirsten Simon nicht. Damit aber all das, was in den letzten Jahren hart erkämpft wurde, nicht hinfällig wird und Isolation die Inklusion verdrängt, wünscht sie sich, dass Politik und Gesellschaft Menschen mit Behinderung und deren Situation endlich mehr wahrnehmen. Zugleich appelliert sie an die Verantwortung der Eltern selbst und hofft auf eine breite Solidarität untereinander, damit der Weg in die Normalität und damit Teilhabe für alle Betroffenen bald wieder möglich ist.   

       Anja Legge