Vor 70 Jahren, am 23. Mai 1949, wurde die Verfassung in Bonn verkündet. Ein Neuanfang, als Ruinen des Weltkriegs in den Himmel ragten.
Das Grundgesetz formuliert einen unerhört hohen Anspruch – ein Vermächtnis von Menschen, denen die Erfahrungen von Totalitarismus und Krieg die Seelen gezeichnet hatten. Seit Inkrafttreten der Verfassung 1949 haben Politiker aller demokratischen Parteien diesen Anspruch verteidigt: dass staatliche Gewalt die Würde des Menschen zu achten und zu schützen habe.
Auf dieser Grundlage wurde die Bundesrepublik ein Staat, der Bürgern viel mehr zutraut, als bei Aufmärschen Fackeln und Fahnen zu tragen; ein Staat, der sich seiner selbst sicher genug ist, um zivilen Ungehorsam wie beim Kirchenasyl auszuhalten; der seine Bewohner nicht als Kämpfer und Vollstrecker einer Ideologie missbraucht.
Trotzdem stellen sich Fragen vor diesem 23. Mai. Ist die Würde von Menschen unantastbar? Auch die von Wanderarbeitnehmern auf Baustellen? Oder die Würde von psychisch Kranken, die laut Therapeutenverband im Schnitt fünf Monate auf Behandlung warten, wenn sie Kassenpatienten sind? Wird Menschenwürde im Prostitutionsgewerbe geachtet? Oder im Rüstungsexportgeschäft, wenn Deutschland am Jemen-Krieg beteiligte Staaten mit Waffen beliefert? Oder bei Abschiebungen, wenn – wie es die Frauenhilfsorganisation Solwodi anprangert – Schwangere nachts von Polizisten aus dem Krankenhausbett geholt werden, damit sie kurz vor Eintritt in den Mutterschutz noch abgeschoben werden können?
Die Unantastbarkeit der Menschenwürde war immer ein Anspruch, nie eine lückenlose Beschreibung der Wirklichkeit. Ihre Berechtigung und Größe hat diese Kernaussage des Grundgesetzes dennoch behalten.
Ulrich Bausewein