Meine Freunde, Zu Hilfe. Heute nach um halb drei ist eine Frau erfroren, auf dem Boulevard Sébastopol. An sich gedrückt hielt sie den Bescheid, mit dem man sie aus der Wohnung geworfen hatte.“ Als der Kapuzinermönch Abbé Pierre vor 60 Jahren diesen dramatischen Appell über Radio Luxemburg an die Franzosen richtete, hatte der Dauerfrost das Land im Griff und die Not war groß: 2000 Menschen seien, so der Kirchenmann, jede Nacht obdachlos und so appellierte er an die Hilfsbereitschaft seiner Landsleute und der Politik.
Der Appell von Henri Grouès, 1912 in Lyon geboren und während der deutschen Besatzungszeit Mitglied der „Resistance“ unter dem Decknamen „Abbé Pierre“, macht auf die Wohnungsnot im Nachkriegs-Frankreich aufmerksam und löst – wie die Presse urteilt – einen „Aufstand der Barmherzigkeit“ aus: Zehn Milliarden Francs billigt das Parlament in Paris für Notunterkünfte, viele Sachspenden der Franzosen und 500 Millionen Francs kommen zusammen. Die Emmaus-Communautés (Gemeinschaften) bewähren sich in einer dramatischen Notlage und wirken bis heute gegen Ausgrenzung und Armut in vielen Städten und sozialen Brennpunkten, nicht nur im Großraum Paris.
Ein Ort der Erinnerung und des Lebens
Rund 20 Kilometer nördlich von Rouen liegt im Pays de Caux das Örtchen Esteville. Ohne Abbé Pierre würde sich wohl kaum ein Besucher in den 500-Seelen-Ort verirren. Jetzt zeigen Wegweiser zum Centre Abbé Pierre, „un lieu de mémoire – un lieu de vie“, „ein Ort der Erinnerung, ein Ort des Lebens.“ Riesige Bilder von Obdachlosen, in Frankreich und in der Welt, säumen den Weg vom Parkplatz zu dem alten normannischen Bauernhof, in dem das Centre Abbé Pierre am 22. Januar 2012, dem fünften Todestag des Kapuzinerpaters, eingeweiht wurde. Alternativ kann man durch einen Container gehen, der auf drastische Weise dokumentiert, was unzureichende Wohn- und Lebensbedingungen auch in reichen Ländern Europas bedeuten.
Schnell wird deutlich, dass die Anliegen von Abbé Pierre leider nichts von ihrer Aktualität eingebüßt haben. Das erste Dach über den Kopf von Obdachlosen gebaut hatte der Kapuzinerpater bereits 1950 in einer Siedlung, genannt Emmaus, bei Neuilly-Plaisance im Département Seine-Saint-Denis (93), östlich von Paris. Nach dem Appell vom 1. Februar 1954 wird Abbé Pierre das soziale Gewissen der Franzosen, über Jahrzehnte führt er die Liste der 50 populärsten Franzosen an. Im Alter von 91 Jahren entschied er, dass er nicht mehr nominiert werden wolle.
„Hier habe ich mein Nest gemacht“, schreibt Abbé Pierre über „La Halte“ in Esteville, ein Anwesen, das ein Unterstützer der Communauté Emmaus 1964 vermacht hat. Vierzig Jahre war es für Abbé Pierre Rückzugsort, zwischen 1991 und 1999 lebte er permanent in Esteville.
Heute wird in zehn Räumen auf 450 Quadratmetern das Leben und Wirken von Abbé Pierre und der Emmaus-Communautés mit Texten, Karten und audio-visuellen Medien dokumentiert. Besonders beindruckend in dem einfachen Haus ist das Arbeitszimmer, das so aussieht, als wäre Abbé Pierre nur einmal kurz aus dem Zimmer gegangen: Sein Schreibtisch, sein Bett, Bücher und Kassetten, das alte Telefon und die Regale, von ihm selbst gebaut.
Esteville-Direktor Philippe Dupont fasst zusammen: „Ein bescheidenes Zimmer eines Mannes, der nie ruhte, ein Ort des Gebets und der Meditation. Aber auch ein Büro, von dem aus er mit der ganzen Welt in Kontakt stand, sei es durch Briefe oder per Telefon.“ Das Atrium ist Zugang zu der verwinkelten Kapelle, in der er täglich Gottesdienst feierte.
Im Haus selbst arbeiten heute rund 30 Personen, meist Jugendliche, die Schwierigkeiten mit der Gesellschaft haben. In einem gläsernen Pavillon werden die Besucher empfangen, informiert und einfach verköstigt. Hier gibt es auch Ausstellungen, wie in diesem Frühjahr über die Aktion, bei der Emmaus am 5. April 1964 in 136 Gemeinden um Rouen 20000 Tonnen Hilfsgüter sammelte.
Schlüssel für richtiges Zuhause überreicht
„Statt Blumen und Kränzen legt auf mein Grab die Liste der Tausenden von Familien und kleinen Kindern, denen ihr die Schlüssel zu einer richtigen Wohnung habt geben können“, so hatte Abbé Pierre verfügt. Also wird er nach seinem Tode am 22. Januar 2007 auf dem Friedhof von Esteville hinter der Kirche St. Firmin beerdigt, neben seiner Mitarbeiterin Lucie Coutaz und vierzig seiner Gefährten.
1949 wird in Neuilly-Plaisance, östlich von Paris, die erste Emmaus-Gemeinschaft gegründet. Ähnliche Bewegungen entstehen in Belgien (1949), Japan (1950), Argentinien (1952), Uruguay (1954) und schließen sich der Emmaus-Bewegung an. Besuche und Vorträge von Abbé Pierre führen zu Emmaus-Gründungen in Kanada (1955), Libanon und Schweden (1959). Nach einer Schulung in Neuilly-Plaisance gründen junge Freiwillige Emmaus-Communautés in ihrer Heimat, wie den Niederlanden (1956), Chile (1958) und Großbritannien (1992).
Meistens sind es lokale Gruppen, die gegen Armut und Ausgrenzung kämpfen, entsprechend ihrem Umfeld, ihren Möglichkeiten und der Gesellschaft. Heute zählt Emmaus International mehr als 300 Organisationen in 36 Ländern auf vier Kontinenten.
Wolfgang O. Hugo
Informationen:
Centre Abbé Pierre – Emmaüs Lieu de mémoire – Lieu de vie, Route d’Emmaüs, F-76690 Esteville,
Internet: „www.centre-abbe-pierre-emmaus.org“,
E-Mail:„contact@abbe-pierre-emmaus.org“.