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      Notfallseelsorger Ulrich Wagenhäuser war vor einem Jahr bei der Messerattacke am Würzburger Barbarossaplatz im Einsatz

      Bei den Menschen sein

      Ein Jahr ist es her, dass am Barbarossaplatz mitten in Würzburg ein Mann mit einem Messer auf wehrlose Menschen eingestochen hat. Drei Frauen starben und mehrere Personen wurden schwer verletzt. Am Landgericht Würzburg läuft inzwischen der Prozess gegen den Anfang 30-jährigen, psychisch auffälligen Täter aus Somalia. Der Angriff macht viele Menschen bis heute fassungslos. Diakon Ulrich Wagenhäuser (60) ist Diözesanbeauftragter für die Notfallseelsorge im Bistum Würzburg und selbst erfahrener „Blaulicht“-Seelsorger. Er hat bei der Messerattacke am 25. Juni 2021 die Arbeit der insgesamt acht Notfallseelsorgerinnen und -seelsorger am Barbarossaplatz koordiniert. Im Sonntagsblatt spricht er über den damaligen Einsatz.

      Herr Wagenhäuser, zum ersten Mal jährt sich die Messerattacke am Würzburger Barbarossaplatz. Wissen Sie noch, wo Sie waren beziehungsweise was Sie gemacht haben, als Sie davon erfuhren?

      Ich bin gerade aus dem Kilianshaus raus, nachdem ich kurz vorher mitgekriegt hatte, dass mehrere Einsatzwagen der Polizei mit hoher Geschwindigkeit vorbeigefahren waren. Ich bin dann in mein Auto gestiegen und wollte nach Hause fahren. Das war ja der Freitag. Und um 18.11 Uhr kam dann meine Alarmierung über die Leitstelle – mit dem Stichwort „Amok“.

      Wie ging es an dem Tag dann für Sie weiter?

      Wenn Amoklage ist, kann man davon ausgehen, dass mehrere Betroffene zu betreuen sind. Da habe ich gleich die Leitstelle aus unserem System nachalarmieren lassen und bin angefahren. Ich habe dann als Leiter-PSNV (Psychosoziale Notfallversorgung, Anm. d. Red.) ein kurzes Briefing bekommen, was zu dem Zeitpunkt bekannt war, und dass schon eine Betreuungsstelle eingerichtet wurde. Inzwischen hatte ich auch Rückmeldung bekommen, welche meiner Einsatzkräfte, also weitere Notfallseelsorgerinnen und Notfallseelsorger, sich gemeldet hatten und auf der Anfahrt waren. Die habe ich beim Eintreffen informiert und eingesetzt, um Betroffene zu betreuen.

      Wenn Sie „Betroffene“ sagen, wen meinen Sie damit?

      Unverletzte. Denn wenn Leute eine physische Verletzung haben, dann sind sie natürlich erst einmal beim Rettungsdienst beziehungsweise dann auch Richtung Klinik unterwegs. Das sind Augenzeugen, das sind Passanten gewesen, die vorbeigelaufen sind. Das waren Leute aus dem Woolworth (Kaufhaus am Barbarossaplatz, Anm. d. Red.). Am Schluss haben wir sogar Leute von Nachbarbüros dagehabt, die das vom Bürofenster aus gesehen hatten. Also die ganze Bandbreite. Das war ja der große Unterschied zu Heidingsfeld (Axt-Attentat in einer Regionalbahn am 18. Juli 2016, bei dem Wagenhäuser ebenfalls als Notfallseelsorger im Einsatz war, Anm. d. Red.). Weil der Barbarossaplatz eine sehr exponierte Lage war; zu dem Zeitpunkt waren ganz vielen Leute unterwegs. Das war ja mitten in der Stadt.

      Was war Ihr erster Eindruck vor Ort? Was ging Ihnen durch den Kopf?

      „Schon wieder!“ Also da war Heidingsfeld natürlich präsent. (...) Und: Wie sieht es denn aus mit der eigenen Sicherheit an der Einsatzstelle? Das war am Barbarossaplatz relativ schnell klar, dass die Lage sicher ist. Ich muss ja auch meinen Einsatzkräften sagen können: „Leute, die Lage ist safe. Die Polizei hat alles im Griff.“ Das ist ja auch ein wichtiger Punkt in unserer Betreuung, diese Botschaft an die Betroffenen rüberzubringen: „Es ist jetzt vorbei, Ihr seid jetzt in einem sicheren Quartier und jetzt versuchen wir runterzukommen und zu gucken, dass Ihr auch perspektivisch wieder in ein ruhiges Fahrwasser kommt.“ ?

      Was tun Sie als Notfallseelsorger vor Ort – Sie als Leiter und mit den Ihnen unterstellten Notfallseelsorgern? Was ist an dem Tag Ihr Job gewesen?

      Wenn ich leite, betreue ich nicht. Meine Aufgabe ist es, meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Betreuung einzusetzen: ihnen Bereiche zuzuweisen, ihnen einen klaren Auftrag zu geben. Ich weiß, was meine Leute können. Da geht es ganz kurz und prägnant zu.

      Sie sagen, Sie wissen, was Ihre Leute können. Was können die denn?

      Bei uns in der Notfallseelsorge gibt es seit 2013 deutschlandweit festgelegte Mindeststandards. Neben dem, was unsere Hauptamtlichen ja schon mitbringen – Erfahrung, Ausbildung in der Pastoral – ist das noch einmal speziell Krisenseelsorge, also auch Kenntnisse in Psychodramaturgie und -edukation, Grundkenntnisse in der Psychologie. Und dann, was bei solchen Einsätzen unabdingbar ist, müssen sie wissen, wie sie sich an so einer Einsatzstelle bewegen. Das ist ja etwas anderes, als wenn sie im häuslichen Bereich eine alte Dame betreuen, die gerade ihren Ehegatten verloren hat und trauert. In einer so großen Lage ist das Szenario ganz anders. Da laufen ganz viele Menschen herum, viele unterschiedliche Einsatzdienste: Feuerwehr, Rettungsdienst, Polizei. Welche Regeln herrschen da? Wie muss ich agieren? All das ist in dieser Ausbildung mit drin. Zweimal im Jahr müssen sie zudem eine Fortbildung machen. 

      Wie muss man sich das als Laie vorstellen? Wie gehen Ihre Notfallseelsorgerinnen und -seelsorger vor Ort vor, wie interagieren sie mit den Betroffenen?

      Also die Betroffenen wissen, dass wir da sind. Wir haben ja unsere Jacken an. Die wissen das auch von der Polizei oder vom Rettungsdienst. Und wir gehen aktiv auf die Leute zu. Die Betreuungsstelle war ja das Lokal „Habaneros“ um die Ecke vom Barbarossaplatz. Das war eine gute Entscheidung, weil das ein geschützter Raum war. Geschützter Raum nicht nur hinsichtlich weiterer etwaiger Amokmöglichkeiten. Sondern sicherer Raum bei so einer Lage heißt auch, dass die Presse außen vor ist; also dass da nicht irgendwo eine Kamera von RTL oder der BILD-Zeitung um die Ecke schaut. Und dann ist die erste Aufgabe Zuhören. Bei den Leute kommt in solchen Lagen erst einmal alles raus. Anschließend versuchen wir das mit den Betroffenen zu strukturieren und Information zu geben. Information entlastet. Und dann machen wir Psychoedukation. Was heißt das? Den Leuten zu sagen: „Passt auf, Ihr wart Augenzeugen einer Gewalttat. Ihr habt dies und das gesehen. Es kann jetzt sein, dass in den nächsten Stunden und Tagen Euer Körper, Euer Geist, Eure Seele so und so reagiert. Das ist aber erst einmal normal. Was könnt Ihr tun, damit das wieder gut abflacht?“ Wir versuchen die Leute wieder perspektivisch zu kriegen. Oder darauf hinzuweisen: „Leute, wenn Ihr jetzt heim kommt, redet mit der Familie, mit Freunden. Setzt Euch nicht ins Kämmerlein und macht die Tür zu und schaut die Wand an.“ Wenn die Leute merken, es geht nach drei vier Wochen immer noch nicht besser – ich sehe immer noch die Bilder, die ploppen auf wie sie wollen – dann müssen sie wissen, und es ist unsere Aufgabe ihnen auch das zu sagen: „Da braucht Ihr weitere Unterstützung, damit Ihr nicht in eine posttraumatische Belastungsstörung hineinrutscht. Meldet Euch beziehungsweise sucht Euch in der psychosozialen Regelversorgung Hilfe.“

      Sie sind Notfallseelsorger, haben viele schlimme Situationen gesehen. Hat Ihre Arbeit in Fällen wie bei der Messerattacke am Barbarossaplatz oder beim Axt-Attentat in Heidingsfeld noch einmal eine andere Qualität?

      Auf jeden Fall. Aber man weiß – durch seine Einsatzerfahrung – natürlich auch, dass man den Einsatz abarbeiten kann. Im wahrsten Sinn des Wortes. (...) Egal, ob das jetzt ein häuslicher Einsatz ist, bei dem eine Person plötzlich gestorben ist oder ob wir eine Massenkarambolage auf der Autobahn haben oder eine Evakuierung eines brennenden Seniorenheims, wie wir es in Würzburg vor Jahren hatten. Jeder Einsatz ist schwierig, jeder Einsatz hat seine eigene Qualität. Klar gibt es Einsatzstichworte und auf der Anfahrt schon erste Informationen – aber jeder Einsatz ist auch immer ein Sprung ins kalte Wasser für uns. Da heißt es vor Ort dementsprechend schnell und flexibel zu reagieren.

      Wenn jeder Einsatz „ein Sprung ins kalte Wasser“ ist. Wie haben Sie selbst und Ihre Kolleginnen und Kollegen die Geschehnisse vom Barbarossaplatz verarbeitet?

      Der eine Punkt ist, dass jede und jeder in der Notfallseelsorge – auch ich – ganz klar weiß, dass er für sich gewisse Dinge zu beachten hat: Einmal die eigene Psychohygiene. Dann die Begrifflichkeit Resilienz (geistige Widerstandskraft, Anm. d. Red.); Resilienz ist ja nicht gottgegeben, sondern Resilienz ist antrainierbar. Und das Andere ist: Wir als Seelsorgerinnen und Seelsorger sind ja, das sage ich jetzt einfach mal so, „im Auftrag des Herrn unterwegs“. Das ist vielleicht etwas missverständlich. Aber ich denke, unsere Einsätze sind von einer gewissen persönlichen Spiritualität und Glaubenseinstellung getragen. Ich habe zwar schon krisenhafte Situationen gehabt, in denen ich mir echt schwergetan habe, aber ich habe immer spürbar für mich persönlich erlebt, dass der, für den wir in diesem Dienst sind, uns da zwar schon immer einen schweren Rucksack hintendrauf schnallt. Aber er ist dann immer rechtzeitig wieder da und nimmt uns den Rucksack ab.

      Sie sind seit 27 Jahren Notfallseelsorger. Wenn Sie sich noch einmal entscheiden müssten, wäre das wieder Ihr Job?  

      Das wäre wieder mein „Job“ beziehungsweise mein Dienst. Warum? Weil ich das für mich persönlich – heute noch einmal mehr, weil ich auf viele Jahre Erfahrung zurückgreifen kann – als wichtigen diakonalen Dienst sehe: Dass wir in der Notfallseelsorge, die beiden Kirchen in ökumenischer Geschwisterlichkeit, in Krisensituationen bei den Menschen sind.

      Interview: Anna-Lena Herbert

      Radio- und Fernsehredaktion des Bistums senden ebenfalls jeweils einen Beitrag zum Thema. Mehr online unter: radio.bistum-wuerzburg.de beziehungsweise bistum.tv.