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      Autor Andreas Boueke ist selbst von Prostatakrebs betroffen

      Aus der Bahn geworfen

      Prostatakrebs ist die weltweit häufigste Krebserkrankung bei Männern. Für die meisten Betroffenen kommt die Diagnose völlig überraschend. Als der Autor Andreas Boueke von seinem Tumor erfuhr, nahm er die Nachricht als Anlass für eine Recherche und Gespräche mit einem Seelsorger.

      Ich war 50 Jahre alt, als ich zum ersten Mal zu meiner Hausärztin zur Vorsorge ging. Sie sagt: „Menschen, die Vorsorge betreiben, leben nicht nur länger, sie leben in der Regal auch besser, wenn ihre Erkrankungen rechtzeitig erkannt werden.“ Wenige Tage nach der Untersuchung bekam ich den Laborbefund: alles in Ordnung. Damals wusste ich noch nicht, dass es für 25 Euro Selbstbeteiligung möglich ist, auch den PSA-Wert bestimmen zu lassen.

      Seit über dreißig Jahren berichte ich als unabhängiger Journalist vorwiegend aus Guatemala. Aber auch in anderen Orten der Welt habe ich immer wieder zu Gesundheitsthemen recherchiert: die miserable Wasserversorgung in Armenvierteln von Kampala, der erbärmliche Zustand des Krankenversicherungssystems in den USA oder die tragischen Konsequenzen einer Cholera­epidemie in einem Flüchtlingslager in Haiti. Meist aber bin ich in Mittelamerika unterwegs. In El Salvador wird fast nie über Gesundheitsvorsorge gesprochen. Nur sehr wenige Guatemalteken haben eine Krankenversicherung. Wenn in Honduras jemand schwer krank wird, lautet die erste Frage meist: „Was kostet die Behandlung?“ Viele Patienten können sich keine angemessene Therapie leisten. So sterben jedes Jahr Zehntausende Mittelamerikaner an Krankheiten, die eigentlich geheilt werden könnten. Wenn Männer in Nicaragua erfah­ren, dass sie Prostatakrebs haben, warten sie oft erst mal ab, wie sich der Tumor entwickelt, auch wenn er so aggressiv ist wie meiner. In Deutschland hingegen gibt es günstige Angebote der Vorsorge. Alle älteren Männer könnten ihren PSA-Wert kennen, meint meine Hausärztin Ulrike Wolf: „Das Prostatakarzinom tritt erst mit zunehmendem Alter auf. Deshalb ist das Krebsvorsorgeprogramm der Krankenkassen für Männer ab 45 vorgesehen.“

      Vorsorge ist wichtig

      Kurz nach meinem 53. Geburtstag ging ich zum zweiten Mal zur Vorsorgeuntersuchung. Diesmal erwähnte meine Hausärztin fast beiläufig, ich solle doch mal zum Urologen gehen. Das sei wich­tig. Mit Hilfe des Internets fand ich Dirk Wippermann in Bielefeld – freundlich, fröhlich, Kumpeltyp. Er schlug mir vor, meinen PSA-Wert bestimmen zu lassen: „Das prostataspezifische Antigen ist ein Eiweiß, das in der Prostata gebildet wird“, erklärte er mir. „Es dient der Samenverflüssigung und wird ans Blut abgegeben.“ Diesmal war der Laborbefund besorgniserregend. Der Urologe nannte meinen PSA-Wert „deutlich erhöht“, fügte aber beruhigend hinzu, das könne viele Ursachen haben. Dann machte er eine Tastuntersuchung meiner Prostata und ein Ultraschallbild. Einen Monat später ließ ich meinen PSA-Wert erneut bestimmen. Er war weiter gestiegen und lag jetzt bei 44. Mein Arzt sagte, eigentlich solle er unter vier liegen. Er schlug vor, eine Magnetresonanztomographie, MRT, machen zu lassen, und eine Biopsie. Das ist eine kleine Operation. Auf den Termin musste ich vier Monate lang warten.

      Diagnose: Krebs

      Der Tag der Biopsie rückte näher. Wieder fragte niemand nach Geld. Ein solcher Eingriff kostet über 2000 Euro, inklusive Vollnarkose. Eine Woche später lag der Befund auf dem Schreibtisch meines Urologen, sein Blick war nicht so fröhlich wie sonst. Ohne Umschweife teilte er mir mit: „Sie haben einen aggressiven Tumor, der bald entfernt werden muss.“ Leider trete bei Patienten häufig eine Blockade auf, wenn das Wort Krebs falle, schilderte Wippermann im Gespräch. „Sie denken dann an Tod, Siechtum, Schmerzen und eine unheilbare Krankheit.“ Tatsächlich aber stirbt nur einer von zehn diagnostizierten Männern an Prostatakrebs. Denn: Es komme immer auf das Stadium an. „Und auf die Art der Krebserkrankung. Gerade bei Prostatakrebs sind die Heilungschancen sehr hoch.“ Die meisten betroffenen Männer folgen dem Rat ihres Urologen und lassen sich die Prostata operativ entfernen. Aber natürlich kann die Entfernung des Organs Nebenwirkungen haben. Der Operateur muss die Harnröhre durchtrennen und nach der Entnahme der Prostata wieder zusammenfügen. So kommt es nicht selten zu einer Inkontinenz, also zu Problemen beim Wasserlassen. Außerdem können Nerven geschädigt werden, was zu Impotenz führen kann.

      Ich wollte weitere Meinungen einholen. So begann für mich ein neues Rechercheprojekt, diesmal nicht aus journalistischer Neugier, sondern motiviert durch die Sorge um meine eigene Gesundheit. Trotzdem ging ich ähnlich vor wie in meinem Job: Fragen stellen, Antworten suchen – in Gesprächen mit Betroffenen, online, bei Terminen mit Expertinnen und Experten. Und immer wieder: Das Abwägen von Informationen, Fakten und Meinungen. Und ich musste auf Emotionen eingehen. Meine Frau Magalí war geschockt. Sie ist Guatemaltekin. Ihre Familie hat furchtbare Erfahrungen mit Krebs durchlebt. Kurz nachdem wir uns vor dreißig Jahren kennengelernt hatten, sind zwei ihrer Cousinen in maroden, miserabel ausgestatteten Krankenhäusern in Guatemala-Stadt jung an Krebs gestorben. Auch deshalb war meine Diagnose so hart für sie und unsere Tochter.

      Viele Überlegungen

      Je tiefer ich in die Recherche eintauchte, desto mehr kam es mir so vor, als sei ich zwischen zwei Fronten geraten. Auf der einen Seite stehen die Urologen, die explizit von einer Strahlenbehandlung abraten. Ihre Argumente sind noch dieselben wie schon vor Jahrzehnten. Auf der anderen Seite argumentieren die Strahlentherapeuten, ihre Methoden seien heute viel schonender und nebenwirkungsärmer als früher. Ich entschied mich gegen eine Operation und für eine Strahlenbehandlung mit Protonen. Im Vergleich zur herkömmlichen Bestrahlung mit Photonen gelten Protonen als sanfter. Das größte der vier deutschen Protonentherapiezentren befindet sich auf dem Gelände des Uniklinikums Essen.

      Die Warteliste des Westdeutschen Protonenzentrums WPE war erstaunlich kurz. Schon bald nachdem ein Ärzteteam meine Bilder und Berichte analysiert hatte, bekam ich einen Beratungstermin. Ein junger Strahlentherapeut schlug mir eine sechswöchige Therapie mit dreißig Bestrahlungen vor. Die Kosten von 27000 Euro übernahm meine Krankenkasse. Wenig später ging es los.

      In der großen Eingangshalle des WPE begrüßte mich der Leiter der Ambulanz, Jürgen Höing: „Prostatapatienten sind fast immer ältere Männer. Die meisten haben sich bewusst für eine Behandlung im WPE entschieden. Die Protonentherapie ist keine Standardbehandlung. Wer sich hier behandeln lässt, hat sich vorher kundig gemacht.“ Meine Frau Magalí war bei jedem Bestrahlungstermin dabei. „Du weißt, dass ich großes Gottvertrauen habe. Während deiner Behandlungen habe ich immer gedacht: ‚Hoffentlich kommen noch mehr Schutzengel, damit das bald ein Ende hat.‘ Du hingegen warst immer ganz ruhig.‘“

      Im Laufe der Behandlungswochen sprach ich mehrmals mit dem Krankenhausseelsorger Uwe Matysik, der viel Erfahrung im Umgang mit Krebspatientinnen hat. „Würden Sie sagen, dass sich Ihre Rolle in der Familie verändert hat“, fragte er mich. „Oder in Ihrer beruflichen Arbeit? Stellt die Erkrankung Ihre bisherige Identität ein Stück weit in Frage?“ Tatsächlich hat sich meine Haltung seit der Krebsdiagnose verändert. „Eigentlich bin ich eher der kämpferische Typ“, war meine Antwort. „Themen wie Menschenrechte, Ausbeutung und Hunger in Ländern das globalen Südens motivieren mich seit Jahrzehnten. Jetzt aber spüre ich, dass ich mich auf meine eigene Gesundheit konzentrieren sollte. Ich bin froh, dass ich trotz des Krebses noch ein gutes Leben führen kann.“ Ich habe gute Gründe, davon auszugehen, dass ich nicht an Krebs sterben werde. Auch deshalb fiel es mir nicht schwer, meinen Blick auf die Zukunft zu richten: „Welche Entscheidungen stehen an? Was ist jetzt zu tun?

      Familie in Schockstarre

      Aber die Reaktion meiner Kinder und vor allem meiner Frau war völlig anders. Magalí war geradezu in eine Schockstarre gerutscht.“ Uwe Matysik nickte zustimmend: „Jede Familie reagiert anders. Oft ist der Patient derjenige, der konfus und ängstlich wird. Dann müssen die Angehörigen stabil bleiben. Bei Ihnen ist es offenbar umgekehrt.“ Er hatte recht. Wahrscheinlich bin ich auch deshalb so gelassen, weil ich durchaus Vorteile in meiner Krankheit sehe: Zum Beispiel achte ich jetzt genauer auf meine Ernährung und treibe mehr Sport. Wer weiß, vielleicht lebe ich von nun an gesünder und werde letztlich länger und besser leben, als wenn ich keinen Krebs bekommen hätte. Außerdem kümmere ich mich jetzt sehr bewusst darum, sicher zu stellen, dass meine Familie versorgt sein wird, falls mir mal etwas Schlimmes zustößt. Diese Antwort wunderte den Seelsorger nicht: „Das begegnet mir öfter, dass Menschen sagen, die Krankheit sei auch ein Gewinn für ihr Leben.“

      Auch das Team in dem Gebäude des Protonenzentrums gibt sich große Mühe, den Patienten eine positive und optimistische Haltung zu vermitteln. Neben der Ausgangstür hängt eine goldene Glocke, die jeder Patient nach seiner letzten Bestrahlung läuten darf. Auch ich habe die Glocke mit ihrem Klöppel geschlagen, bekam Applaus und konnte mich verabschieden. Schon zwei Wochen später waren die Nebenwirkungen der Bestrahlung weitgehend abgeklungen. Körperlich fühle ich mich aktuell fast wieder so wie vor der Strahlentherapie. Aber ausgestanden ist die Sache noch nicht. Prostatapatienten gelten erst fünf Jahre nach der Behandlung als krebsfrei, vorausgesetzt, dass keine Metastasen gefunden werden.

      Gute Chance auf Heilung

      Einige Wochen später sind Magalí und ich wieder nach Guatemala gereist. Keiner meiner Schwäger dort kennt seinen PSA-Wert. Aber es gibt auch offensichtliche Unterschiede zwischen ihnen und mir. Zum Beispiel bekommen sie keine Vorsorge angeboten. Sollten sie eines Tages Prostatakrebs haben, erfahren sie das womöglich erst, wenn sie Beschwerden oder Metastasenschmerzen in den Knochen spüren. In einem solchen Stadium haben die meisten Guatemalteken nicht genug Geld für eine erfolgversprechende Behandlung. Viele leben dann mit dem Tumor, bis sie eines Tages daran sterben. Meine Frau Magalí ist sich dieser Unterschiede sehr bewusst: „Die Deutschen sind daran gewöhnt, dass sie ein gutes Gesundheitssystem haben. Das finden sie normal. Wenn sie in Guatemala leben würden, in einer ländlichen Region, wo die Gesundheitszentren nicht einmal fließendes Wasser haben, dann würden Sie wahrscheinlich mit mehr Dankbarkeit anerkennen, dass sie in einem so gut entwickelten Land leben.“

      Andreas Boueke