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      Obdachlosigkeit in Würzburg – Versuch einer Spurensuche

      Aus dem System herausgefallen

      Würzburg, Anfang Februar. Ich stehe vor einem großbürgerlich wirkenden Haus in der Rüdigerstraße. Die hellgraue Fassade des historischen Gebäudes im Neobarock gliedern große Pilaster, die von Kapitellen mit Engelsköpfen bekrönt werden. Im Erdge­schoss ist die Wärmestube untergebracht; die Einrichtung wird von der Christophorus-Gesellschaft betrieben. Dort habe ich einen Gesprächstermin mit einem Mann, der zu einer Gruppe gehört, die man in Würzburg häufiger sieht, aber nicht wirklich kennt: die Obdachlosen, im Behördenjargon „Wohnungslose ohne Unterkunft“. In ganz Deutschland lebten im Dezember 2022 laut dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales 38500 „Wohnungslose ohne Unterkunft“ auf der Straße.

      Die Zahl der Wohnungslosen ist erheblich größer: Laut Statistischem Bundesamt waren am 31. Januar 2023 in Deutschland rund 372000 Personen wegen Wohnungslosigkeit untergebracht. In Bayern lebten laut einer Auskunft des Bayerischen Staatsministeriums für Familie, Arbeit und Soziales am 31. Januar 2023 insgesamt 32380 Wohnungslose; aktuell sind laut Pressesprecher Georg Wagenbrenner 529 wohnungslose Personen im Verfügungswohnraum der Stadt Würzburg untergebracht.

      Aus der Bahn geworfen

      Wie ich von der Stadt erfahren habe, werden Menschen aus zahlreichen Gründen obdachlos: Dazu gehören besondere Belastungen durch Umstände wie Trennung, Scheidung und Krankheit, der Verlust des Arbeitsplatzes oder der Wohnung, ein Unfall oder der Tod einer nahestehenden Person – kurzum: Ereig­nisse, die Menschen aus der Bahn werfen können. Dazu kommen Einschränkungen und Belastungen durch Sucht und psychische Erkrankungen.

      Zu den Menschen, die das Schicksal aus der Bahn geworfen hat, gehört auch mein Gesprächspartner, ein älterer, regelmäßiger Gast der Wärmestube. Er stammt aus Unterfranken und erzählt mir, wie es dazu kam, dass er schon zum zweiten Mal obdachlos ist – seit sieben Jahren. Gelernt hat er ein Handwerk: „Ich habe schon in den unterschiedlichsten Bereichen gearbeitet und auch teilweise ganz gut verdient“, berichtet er. „Montage, Bauleitung, Betriebsleitung.“

      Auf die Frage, warum er aus dem System herausgefallen sei, antwortet er: „Das ist immer das Problem bei uns Obdachlosen, dass der Boden nicht fest genug ist.“ Was er damit meint, erklärt mein Gesprächspartner so: „Man ist in einer Arbeit, in einer Beziehung, hat eine Wohnung. Alles gut und schön. Und plötzlich fehlt ein Teil.“ Ein Teil – das heißt beispielsweise, dass eine Beziehung zu Ende geht. Dann sei die Arbeit nicht mehr so wichtig.

      Denn das Problem sei, dass die Arbeit nur dazu diene, eine Familie zu ernähren – und nicht das sei, was man für sich selbst wolle. „Ich habe in meinem ganzen Leben bis auf ein Mal keine Arbeit gehabt, von der ich hätte sagen können: „Das ist das, was ich machen möchte.“ Seine Bildungskarriere sei nicht so verlaufen, wie sie hätte verlaufen können – als „milieugeschädigt“ habe ihn ein Psychologe vom Arbeitsamt einmal bezeichnet. „Du bist arm, du kannst nicht auf die höhere Schule gehen“, so habe die Einstellung in seiner Herkunftsfamilie gelautet. „Die Familie kann sich das nicht leisten.“ Und da die Mutter die alleinige Erziehungsberechtigte gewesen sei, habe das Jugendamt auch nicht helfen können. Dann berichtet er vom Zusammenhalt in der Wärmestube, die so etwas wie Familie sei, wie er später ergänzen wird. Dort würden die Obdachlosen aufgerichtet. Außerdem biete die Wärmestube die Möglichkeit, sozialfähig zu bleiben: Wäsche waschen, duschen, ärztliche Versorgung, Ausflüge. „Die Wärmestube tut da sehr viel“, lobt er. „Auf jeden Fall ist es sehr gut, dass die Stadt mit der Christophorus-Gesellschaft etwas auf die Beine gestellt hat, um vor allem junge Leute aufzufangen.“

      Je nach Jahreszeit

      Der Tagesablauf meines Gesprächspartners hängt von der Jahreszeit ab: Im Sommer steht er um 5.20 Uhr auf. Zuerst sammelt er Flaschen, die er dann in den verschiedenen Läden abgibt. „Dann hast du schon einmal ein paar Cent“, sagt er. Dann geht er zur Wärmestube und eventuell zum Mutterhaus der Erlöserschwestern, um dort in der Elisabethstube etwas Warmes zu essen. Anschließend sammelt er im Park wieder Flaschen. Falls die Runde ertragreich war, macht er sich eventuell nochmal auf die Suche nach Flaschen.   Abends durchsucht er erneut bestimmte Ecken, sammelt die Flaschen ein und gibt sie dann gegen 21 Uhr ab. Dann geht er zu seinem Schlafplatz am Stadtrand.   Im Winter sieht sein Tagesablauf anders aus. Dann steht mein Gesprächspartner um 6.30 Uhr auf und geht mit den Hunden einer Freundin Gassi. Anschließend sammelt er eine Runde Flaschen, läuft dann zur Wärmestube und von dort aus gleich wieder zu den Hunden: „Die wollen mittags ja auch mal raus.“ Mit den Hunden schaut er auch öfter mal in der Wärmestube vorbei. Je nach Wetter ist er möglichst lange mit den Tieren mittags unterwegs. Nachmittags sammelt er eventuell auch noch eine Runde Flaschen und geht dann spätabends wieder Gassi. Im Winter schläft er dann auch bei den Hunden in der Wohnung der Freundin.  

      Wo schlafen?

      Wo übernachten eigentlich Menschen, die keine Unterkunft haben? Bei meiner Spurensuche habe ich einige in der Stadt gesehen: Sie liegen in Schlafsäcken vor Ladeneingängen in der Innenstadt, schlafen im überdachten Eingangsbereich von öffentlichen Gebäuden am Stadtrand – oder auf Parkbänken. Ich denke mir: Ist das nicht gefährlich, völlig ungeschützt im Freien zu übernachten?

      „Aktuell übernachten rund 30 Menschen in Würzburg draußen“, schätzt Michael Thiergärtner. Er leitet die Kurzzeitübernachtung für Männer in der Wallgasse, nicht einmal fünf Minuten vom Würzburger Hauptbahnhof entfernt. Seine Gäste kommen aus Unterfranken, Bayern und dem sonstigen Bundesgebiet. „Momentan zentriert es sich aber wieder auf Würzburg“, sagt der Sozialpädagoge. Neben der veränderten Gesetzgebung sei aber auch ein kultureller Umschwung für die Zentrierung auf Würzburg verantwortlich: „Die Leute sind nicht mehr so beweglich. Die Reisenden, die wir früher hatten, die sterben wirklich aus“ , erläutert Thiergärtner. „Da gibt es nur noch ganz wenige, die wirklich jede Woche von Einrichtung zu Einrichtung reisen, bundesweit, teilweise europaweit.“ Würzburg sei außerdem die einzige Großstadt in der Region.

      Übernachten können die Obdachlosen in der Wallgasse sieben Tage im Monat: „Wir sind dann das letzte Netz, das sie auffängt oder sie zur Entspannung aufnimmt, wenn jemand, der bei einem Kumpel übernachtet hat, wieder eine Woche raus muss.“ Zur Verfügung stehen fünf schlicht eingerichtete Vierbettzimmer. „Ganz voll sind wir nie“, berichtet Thiergärtner. „Unsere Kapazitäten sind so ausgerichtet, dass wir jede Nacht immer aufnehmen können.“ Eine Küche und die notwendigen sanitären Einrichtungen sind auch vorhanden.

      Im Durchschnitt seien die Männer, die in der Wallgasse übernachten – für Frauen sind die Bahnhofsmission und das Haus Antonie Werr in der Sanderau die Anlaufstelle – zwischen 40 und 50 Jahren alt. Für den Weg in die Obdachlosigkeit seien „Suchterkrankung, Trennung, Arbeitslosigkeit“ in unterschiedlicher Kombination verantwortlich. Hinzu kämen dann auch als Variable in der Justizvollzugsanstalt oder in der Psychiatrie verbrachte Zeiten.

      Betreutes Wohnen

      Michael Thiergärtner ist auch für das Projekt „Betreutes Wohnen“ verantwortlich:  Wohnungslose können im Würzburger Stadtgebiet Ein-Zimmer-Wohnungen beziehen, die die Christophorus-Gesellschaft gemietet hat. „Wir bringen fünf bis sechs Männer pro Jahr in mietrechtlich gesicherten Wohnraum unter“, berichtet er.

      Stolz ist Thiergärtner auf einen älteren Obdachlosen, der etwa 30 Jahre auf der Straße gelebt hat: Der habe in seinem hohen Alter jede Nacht auf der Straße geschlafen und sei jetzt über das „Housing first-Projekt“ in eine Wohnung eingezogen und habe dadurch „eine eigene Mietwohnung. Und das finde ich schon toll“, sagt Thiergärtner. Wichtig ist für ihn, seine Klienten nicht als Bittsteller zu behandeln: „Bei uns sind sie Anspruchsberechtigte.“

      Nachdenklich verlasse ich die Kurzzeitübernachtung. Vier Wochen später liegen ein paar Meter weiter ein grau-grünlicher Langflorteppich und ein Schlafsack auf einer Bank vor dem Generationen-Zentrum Matthias Ehrenfried. Wem das „Bettzeug“ wohl gehört? Und was muss sich an unserem Gesellschaftssystem ändern, damit Obdachlosigkeit kein Thema mehr ist?     

      Stefan W. Römmelt

      Hilfe

      Hilfe der Stadt Würzburg bei Obdachlosigkeit: https://www.wuerzburg.de/ themen/gesundheit-soziales/finanziellehilfen-notlagen/15174.Hilfe-bei-Obdachlosigkeit.html“ Kirchliche Angebote für wohnungslose und obdachlose Menschen in Unterfranken: https://www.caritas-wuerzburg.de/ hilfe-beratung/menschen-in-krisensituationen/wohnsitzlosigkeit/.