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      Ein Streifzug durch das Jüdische Museum Berlin

      Anders als Sie erwarten!

      Ein Streifzug durch das Jüdische Museum Berlin
      Berlin. Sprühsahne kommt aus dem Wasserhahn, die Kokosnuss hat das Fruchtfleisch einer Orange und aus der Zahnpastatube schlängelt sich eine Raupe auf den Bürstenkopf.
      Von wirren Phantasien oder gar schlechten Scherzen kann hier keine Rede sein. 320 dieser Fotos zieren Berlins U-Bahnen und Litfasssäulen. Viele Menschen bleiben stehen und schauen ungläubig ein zweites Mal hin. „Anders als Sie erwarten!“ lesen sie und wohl erst auf den dritten Blick entdecken die meisten, wer mit dieser Plakataktion Werbung in eigener Sache macht: „Jüdisches Museum Berlin“ steht klein in der rechten unteren Ecke.
      Wer dort lediglich eine Ausstellung über den Holocaust erwartet, wird jedenfalls enttäuscht. Wer säuberlich aufgereihte Exponate und Erklärungen auf zwei mal zwei Meter großen Schautafeln abschreiten möchte ebenfalls.
       
      Was den Besucher vor allem erwartet ist Architektur ersten Ran-ges. Seit 1969 hat der Trägerverein seinen Sitz in der Lindenstraße von Berlin-Kreuzberg, keine fünf Minuten vom ehemaligen Grenzkontrollpunkt Checkpoint-Charlie entfernt. Ein wenig Abseits liegt das Jüdische Museum, inmitten von Wohnhäusern, einem deutsch-türkischen Kindergarten und brachliegenden Grundstücken.
       
      Neben dem barocken Altbau zieht eine futuristische Konstruktion in silbergrau die Augen schon von weitem an. Die Sonne bricht sich im gebürsteten Stahl, der nur hier und da von zackenförmigen Fensteröffnungen durchbrochen wird. Der elfjährige Dennis ist begeistert: Schon oft habe er von den Eltern gehört, dass der Neubau eine ganz besondere Leistung wäre, erzählt der Blondschopf. Er nickt mit Nachdruck: „Das kann ich voll bestätigen.“ Der Junge hat Sachverstand. Denn Architekt Daniel Libeskind genießt für die blitzförmige Zick-Zack-Konstruktion weltweite Anerkennung. Der Deutsche Architekturpreis aus dem Jahr 2000 ist nur einer der Preise für den „aufgebrochenen Davidstern“, wie Libeskind den Grundriss seines Baus versteht. Nicht zuletzt wegen des Erfolgs von Berlin bekam der in Polen geborene Amerikaner jetzt den Zuschlag für die Neugestaltung des World-Trade-Centers in New York.
      Die Eintrittskarten für das Jüdische Museum gibt es im Altbau. Erst steile Treppen und ein unterirdi-scher Gang führen zur Ausstellung im Libeskind-Bau. „Achse der Kontinuität“ heißt der mehr als 50 Meter lange kahle Flur. Zweimal wird er unterbrochen: An Exil und Holocaust erinnern weitere Gänge, die sich in Form eines Andreaskreuzes treffen.
       
      Eine junge Frau in schwarzem Kostüm weist den Weg durch das unterirdische Labyrinth. Sie ist eine von 200 Männern und Frauen, die nach einer speziellen Ausbildung durch das Museum führen und die ein oder andere Frage zu den Exponaten beantworten. Die schwarzen Punkte der jüdischen Geschichte solle man zunächst nicht beachten, rät die Dame mit dem charakteristischen Halstuch in gelb und rot, und statt dessen die Stufen in die zwei Stockwerke höher beginnende Ausstellung erklimmen. Am Ende der schier endlos scheinenden steilen Treppen steht ein Granatapfelbaum. Dessen Früchte gelten im Judentum als Symbol für das Leben und sind Glücksboten; zum Neujahrsfest werden sie mit guten Wünschen verschenkt. Wer mag, kann seinen Wunsch auf einen Apfel aus Papier schreiben und an einen der Äste hängen. Wer die übrigen Lebens-Wünsche lesen will, muss nur auf einer Stahltreppe in den Baum hineinsteigen.
       
      Es sind 3000 Exponate, die auf mehr als 3000 Quadratmetern den Weg durch rund zwei Jahrtausende deutsch-jüdische Geschichte markieren. Das erste stammt aus dem Jahr 321: Ein Erlass von Kaiser Konstantin an den Stadtrat von Köln belegt die Existenz einer jüdischen Gemeinde auf deutschem Boden. Von Köln reist der Besucher weiter nach Speyer, Worms und Mainz. Das Fenster einer Synagoge, Tora-Rollen, Gebetbücher, Kultgegenstände und Gemälde begleiten ihn.
       
      Am 54. Jahrestag der Reichskristallnacht wurde 1992 der Grundstein für die Erweiterung des Jüdischen Museums gelegt. Neun Jahre später war das Kunstwerk vollendet und öffnete am 13. September 2001 seine Pforten – wegen der Anschläge auf den World-Trade-Center mit zweitägiger Verspätung. Allein im ersten Jahr kam eine dreiviertel Million Menschen nach Berlin-Kreuzberg. Fast ein Drittel davon war jünger als 20 Jahre.
      Gerade für Kinder hat das Museum eine Menge zu bieten. Aber auch deren Eltern wird es ganz bestimmt nicht langweilig. In Multimedia-Shows reist Jung und Alt zurück ins Mittelalter oder macht Bekannt-schaft mit Glikl bas Juda Leib. Als erfolgreiche Unternehmerin lebte sie von 1646 bis 1724 in Hamburg und verfasste unter dem Namen Glückel von Hameln ihre Memoiren. Auszüge aus dieser ältesten erhaltenen Biographie einer jüdi-schen Frau zeigen Ereignisse aus dem Leben der Händlerin und Mutter. Per Mausklick packen die Besucher der vielbeschäftigten Glikl den Koffer für ihre Geschäftsreisen.
       
      An Schautafeln lernen Wissbegierige das hebräische Alphabet, Computer schreiben ihre Namen in Quadratschrift. Im nächsten Raum dreht ein Ehepaar ganz gespannt an zwei Holzrollen. Die richtige Kombination zeigt ihnen die Herkunft vieler deutscher Redewendungen: „Betucht“ kommt etwa vom hebräischen „batnach“, was soviel wie sicher, kreditwürdig bedeutet; „Tacheles“ von „tachlit“, zu deutsch Ziel oder Endzweck; Hals- und Beinbruch meint im Original „Glück und Segen“; „hazlacha waj bracha“ sagen die Juden.
      In 14 Abschnitte ist die Ausstel-lung unterteilt und bietet eine Zeitreise vom Mittelalter über die Aufklärung bis zur Gegenwart. Aufklärer Moses Mendelssohn kommt zu Wort, der Besucher flaniert durch die großen Warenhäuser von Wertheim und Tietz oder wird von Max Reinhardt hinter die Kulissen des Theaters geführt.
       
      Nicht nur Geschichtsdaten, vor allem Szenen aus dem jüdischen Alltagsleben entstehen vor den Augen der Besucher. Da gibt es zum Beispiel den Wunschzettel von Kurt Mschalski zu dessen 14. Geburtstag aus dem Jahre 1922: Ein Hund steht an erster Stelle, dann eine Armbanduhr. Ganz zum Schluss nennt er als 13. Wunsch „eine Clubgarnitur für unser Her-renzimmer“.
       
      Ein Hochzeitsbaldachin, unter dem sich jüdische Paare die Treue versprechen, ist originalgetreu aufgebaut. Daneben zeigen 20 verschieden Kippas die Vielfalt der Kopfbedeckungen jüdischer Männer.
      Schulbänke und eine Tafel erinnern an Toraschulen und den hohen Stellenwert der Bildung im Judentum. Wer an den Tischen im Miniformat Platz nimmt, dem erzählen über Hörmuscheln Mädchen und Jungen aus der Jüdischen Schule Berlins Einzelheiten über die Sabbatpraxis, die koschere Küche oder das Familienleben.
       
      Nach dem geschichtsträchtigen Zick-Zack durch zwei Stockwerke führt der Weg schließlich zurück zu den Gängen im Keller. Koffer, Geschirr, Bücher und Fotos liegen auf der „Achse des Vergessens“ hinter Glas. In die Wand eingelassen erinnern sie an die Auswanderung Tausender Juden nach Amerika und erzählen von deren Liebe zur Heimat und der Angst vor dem Neubeginn.
       
      Am Ende ist eine Tür, dahinter eine Kammer; ohne Fenster, ohne Licht. Die meisten Kinder schreien vor Schreck erst einmal kurz auf, wenn die Tür hinter ihnen ins Schloss fällt. Nichts gegen die Schrecken des Holocausts, an die das finstere Loch erinnern soll.
      Die zweite Achse führt nach drau-ßen in ein Labyrinth aus 49 Säulen: der Garten des Exils. Der helle Beton reflektiert die Sonne; gleißendes Licht und die immer gleich scheinenden Wege auf der schiefen Ebene machen die Orientierung schwer. Die Erwachsenen gehen schweigend durch die Reihen aus Licht und Schatten, die Kinder spielen Verstecken. Ölweiden wachsen aus den sechs Meter hohen Betonblöcken. Das Leben geht weiter, scheinen sie zu sagen.
      Die Treppen zum Altbau hinüber sind der siebenjährigen Anna in-zwischen zu steil. Vom vielen Schauen tränen ihr schon die Augen und die Mama trägt sie bis zur Garderobe. „Hier müssen wir wieder hin“, sagt die Kleine schon im Halbschlaf. „Es gibt noch so viel zu sehen.“ Wie schnell die fast drei Stunden im Museum verflogen sind, kann auch die Mutter kaum fassen.